Lieber Hansjürgen,
Emma ist nicht mehr läufig, jedenfalls tropft es nicht mehr. Wie eindeutig das ist oder nicht, vermag ich nicht zu sagen. Selten habe ich zu einem Phänomen so unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Einschätzungen gehört. Nach wie vor scheinen Rüden auf der Straße an Emma stark interessiert. Ob es um ein allgemeines oder unerwünscht zielgerichtetes Interesse handelt, bleibt unklar. Jedenfalls erscheint es mir nach wie vor bedrohlich, und entsprechend werden männliche Hunde – vielleicht ganz zu Unrecht – misstrauisch betrachtet.
Dieses Misstrauen hat seinen Ursprung in einem Erlebnis vor einer Woche, als wir Emma in der Uckermark nach langer Kasernierung ein Auslaufvergnügen gönnen wollten. Wir fuhren mit dem Wagen in eine abgelegene Gegend mit freien Feldern an einem schönen Waldhang, der sich schon oft als menschen – und hundeleer erwiesen hatte. Die Sache ließ sich erfreulich an, Emma tobte ausgelassen, versuchte vergeblich einen Storch zu fangen, der offensichtlich ein Vergnügen daran hatte, sie mehrfach auf ein paar Meter an sich heranzulassen, um dann in für Emma unerreichbare zwei Meter kurz aufzufliegen.
Inzwischen hatten wir uns einer bisher wunderschönen Wiese von mehreren Hektar genähert, die sich verblüffender Weise in ein Maisfeld verwandelt hatte. Wie wir später erfuhren, handelt es sich um eines von hunderten Feldern, die in Zukunft in schöner Monokultur mit Mais bebaut werden, um Stoff für eine Biogasanlage gigantischen Ausmaßes zu liefern. Verbunden mit der Verarbeitung von Mais zu Biogas ist ein Abfallprodukt, das seinerseits auf Felder aufgebracht werden muss. Da alle freien Flächen von einem holländischen Schweinemäster in Anspruch genommen werden, der dort die Gülle von Hundertzwanzigtausend Schweinen aufzubringen gedenkt, darf man gespannt sein, wo die sogenannte Schlempe bleibt, die bei der Biogasproduktion anfällt.
Jedenfalls lehrt uns all dies, dass mit einigen Totschlagargumenten wie etwa Arbeitsplätze und Regenerative Energie auch die schönste Gegend, deren eigentliche Chance der Tourismus wäre, steuerlich gefördert von Schwein und Gas zur Sau gemacht werden kann. Zurück zu Emma, die plötzlich auf dem Feldweg, auf dem wir spazierten, wie angewurzelt stehen blieb. War auch sie überrascht vom Mais, so weit das Auge reichte? Kaum, denn der Mais war bereits höher als Emmas Auge bei Standhöhe.
Außerdem blickte sie in die entgegengesetzte Richtung. Von dort näherte sich, wie Emma eindeutig vor uns entdeckt hatte, ein abgrundhässlicher Dackelmischling, schnell als Rüde erkennbar. Unser Auto stand einen guten Kilometer entfernt an einem Dorfrand. Von dort musste der Bursche Emmas drogengleiche Witterung aufgenommen haben. Emma legte sich auf den Bauch, um zu spähen, der Dackel näherte sich nun mit einem Tempo, das man seinen Beinstummeln nicht zugetraut hätte.
Es entstand eine Balgerei, die ich für die Vorboten baldigen Kopulierens hielt, während G. das Ganze mit verblüffender Gelassenheit sah: Der Dackel wolle nur spielen. Für mich sah das ganz und gar nicht so aus. Ich äußerte meine Befürchtung, G. meinte, Emma bisse den Dackel ja doch weg, wenn er sich in eindeutiger Absicht ihrem Hinterteil nähere. Nicht, dass ich Hundeverhalten grundsätzlich mit dem von Menschen vergleichen möchte, aber auch bei zweibeinigen Wesen, geht dem endlichen Einverständnis doch häufig eine lange Phase scheinbarer Ablehnung voraus. Gleiches beobachtet man von Auerhahn bis Zwergkaninchen auch in der Tierwelt.
Woher also Gs. Optimismus? Der darin gipfelte, dass sie Emma, sie war inzwischen an die Leine gelegt, wieder losmachte, weil sie Mitleid mit Emma hatte, die ständig zotteln mußte, während der Dackel freie Bahn hatte. Wie kaum anders zu erwarten, verschwanden beide Hunde umgehend im Maisfeld. Vom Dackel sah man nichts mehr, von Emma den hüpfenden Kopf. Ich tröstete mich damit, dass so lange der Kopf auf diese Weise rhythmisch erschien, noch Hoffnung bestand. Den Hunden ins Maisfeld zu folgen wäre sinnlos gewesen, zumal wir damit vermutlich einige Milliliter Biodiesel vernichtet hätten. Erstaunlicherweise folgte Emma meinen hysterischen und G. nun strengen Rufen und kam zu uns zurück, ließ sich sogar, wenn auch sehr widerwillig, wieder an die Leine nehmen.
Das hinderte den Dackel nicht, seine Bemühungen fortzusetzen. Und zwar gegen jeden Versuch, ihn mit Schreien, schließlich sogar sanfter Beinarbeit von Emma fern zu halten. Das meinte ich oben mit drogengleich: Der Dackel verhielt sich, wie ich mir einen Kokainsüchtigen vorstelle, vor dessen Nase man mit einem Tütchen Stoff herumfuchtelt, ohne ihm die Chance zu geben, es zu erhaschen. Als nichts half und der Dackel mehrfach auf Emmas Rücken gehüpft war, wo er allerdings wegen ungünstiger Bauart immer wieder abrutschte, entschloss ich mich zu einer Verzweiflungstat. Ich, der ich überschnelle Gangart meide, rannte mit Emma in Richtung Auto, um dem Dackel damit jede Möglichkeit seiner rüden Rüdenabsichten zu nehmen. Das ging in der Tat so lange gut, wie mein ungeübter Leib den Spurt durchhielt. Da das Auto noch fern war, verlief der Restweg wieder mit Schreien und Schubsen.
Dem Infarkt nahe riss ich, nachdem das rettende Fahrzeug endlich erreicht war, die Klappe der Ladefläche auf, aber der Dackel war schneller im Auto als Emma. Wie das kurzbeinige Tier die Höhe von einem halben Meter so rasant überwinden konnte, ist mir noch jetzt ein Rätsel. Der Dackel mußte entfernt werden, was mit Zugriff nicht möglich war, weil ihm – halsbandlos – sozusagen der Henkel fehlte. Also mußte Emma zum Lockvogel umfunktioniert werden. Zehn Meter Entfernung brachten den Dackel endlich aus dem Auto. Weitere Versuche mit der Heckklappe waren sinnlos. Also wurde Emma durch eine einen spaltbreit geöffnete hintere Tür in den für sie sonst verbotenen Fahrgastraum befördert, wobei Georgia und ich den Dackel abwehrten.
Danach stiegen wir mit großen Mühen, unter Fernhalten des Dackels selbst in das Auto und fuhren los. Genauer wir flüchteten. Der Dackel folgte dem Wagen noch einen guten Kilometer in beneidenswerter Kondition. G. bemerkte erschöpft, erst jetzt verstehe sie den wahren Sinn des Spruchs ‚Spitz wie Nachbars Lumpi‘. Nun also soll es mit der Gefahr vorbei sein. Ich bin skeptisch und hoffe, dass die Hundeführerin, bei der Emma nun nach knapp sechs Wochen wieder in Obhut gegeben wird, die Sache im Griff behält.
Emma ist – von all diesem abgesehen – nun ein voll in die Familie aufgenommener Hund, der sich benimmt, wie Hunde es wohl üblicherweise tun.
Es steht zu befürchten, dass bald nicht mehr so viel Spektakuläres zu berichten ist.
Herzlich
Dein Ulrich.