EIN RÜCKSICHTSVOLLER MENSCH

Der Mann, der an einem Spätnachmittag die Tierhandlung betrat war im Rentenalter, freundlich, unauffällig gekleidet, nichts an ihm schien ungewöhnlich.
Allerdings war er, was seinen Wunsch nach einem Tier betraf äußerst unentschlossen: ob er nach einem Säugetier Ausschau halten sollte, nach einem Vogel, einem Fisch, einem Lurch oder einem Insekt, er konnte es nicht sofort sagen.
Das alles gab es in der Tierhandlung in großer Auswahl.

Der Mann ließ sich Zeit. Ein Angestellter zeigte ihm Meerschweinchen, Hamster, Frettchen, Weiße Mäuse, schwarze Ratten, Zwergkaninchen und zahme Hasen, Kanarienvögel, Wellensittiche, Papageien, Aras, Prachtfinken und Kolibris, Krähen und Raben. Der Mann betrachtete eingehend Goldfische, Skalare, Koys, Guppys, Black Mollys, um nur einiges zu nennen, was die Tierhandlung in ihren Aquarien bereithielt. In der Abteilung Terrarien gab es Salamander, Eidechsen aller Art, einen kleinen Leguan, ein Chamäleon. Ringelnattern, Blindschleichen, eine junge Anakonda und eine Kobra ohne Giftzähne. In der Insektenabteilung saß eine Gottesanbeterin bewegungslos an einem Ast, Hirschkäfer, Schaben, Pillendreher und Skarabäen krabbelten in ihren gläsernen Behausungen, dazu Vogelspinnen in verschiedenen Größen.

Außerdem, könne die Tierhandlung Kontakte zu Hunde- und Katzenzüchtern herstellen, wurde dem Unschlüssigen angeboten.
Allmählich ungeduldig geworden erkundigte sich der Angestellte, ob es denn nicht irgendein Kriterium gebe, das bei der Auswahl behilflich sein könnte. Ob das Tier eher groß oder eher klein sein sollte, mehr oder weniger Pflege bedürfe, ob der Mann ein Tier halten wolle, zu dem er Kontakt aufnehmen könne, das seinerseits zutraulich würde.

All dies interessiere ihn kaum, sagte der Mann. Er wolle zwar etwas Lebendiges um sich haben, darüber hinaus gehe es ihm aber vornehmlich um die Lebenserwartung eines zu erwerbenden Tieres. Als der Angestellte hierauf befremdet reagierte, konnte der Kunde seinen Wunsch plausibel begründen. Zwar hätten ihm zahlreiche Fachärzte ein langes Leben vorhergesagt. Aber könne man einer solchen Einschätzung wirklich trauen? Wenn er sich also ein Tier anschaffe, wolle er nicht, dass nach seinem Ableben – hier meinte er sein eigenes – jemand mit dem zurückgelassenen Tier Umstände hätte. Er sei Witwer, eine Tochter lebe in Lesotho, ein Sohn in Paraguay und sein einziger Kontakt sei seine Zugehfrau, die aber, sollte er in seiner Wohnung versterben, was immerhin ganz plötzlich möglich sei, schon genug mit dem Schreck über diesen Umstand zu tun haben würde, und der er nicht noch die Mühe mit einem zurückgelassenen Tier aufbürden wolle. Das leuchtete dem Angestellte ein, und nun begann das Betrachten der Tiere von Neuem, wobei der Angestellte, dem der Kunde jetzt eher leidtat, mit großer Geduld die voraussichtliche, wenn auch keineswegs garantierte Lebenserwartung seines lebendigen Angebots erläuterte.

Als es bereits dämmerte, verließ der Mann die Tierhandlung mit einer frisch geschlüpften Eintagsfliege.
Er hätte an diesem Abend nicht mehr Rad fahren sollen.

UdM

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