Ich hatte sowieso schlechte Laune, weil die soundsovielte Signalstörung dieser Woche bei der S-Bahn mich wieder wertvolle Stunden meines Lebens gekostet hatte, da brauchte ich nicht noch obendrein Dan Krause mit seinen kruden Katastrophenszenarien und Verschwörungstheorien.
Er war noch in guter Entfernung um vorzutäuschen, ich hätte ihn nicht gesehen. Aber dann beunruhigten mich sein hochroter Kopf und seine seltsam geblähten Backen. Ich ging besorgt auf ihn zu und fragte mit der neuerdings üblichen Redewendung ‚Alles in Ordnung, Dan?’ nach seinem Befinden. Dan blieb vor mir stehen und atmete geräuschvoll und mit deutlicher Erleichterung aus. Er warf einen Blick auf die altmodische Armbanduhr, die er schon als Schüler getragen hatte und sagte ‚Dreizwölf, nicht schlecht, aber noch nicht gut.’ Erst dann begrüßte er mich und wollte wissen, was meine Frage, besser, der sorgenvolle Unterton, mit dem ich sie gestellt hatte, bedeute.
– Du hattest einen ungewöhnlich roten Kopf, Dan, deshalb meine Frage.
– Das gibt sich; im Training kommt das noch vor.
– Was trainierst du denn?
– Apnoe. Vermutlich weißt du nicht, was das ist.
– Doch. Das ist eine Technik, mit der Taucher ohne Atemgerät minutenlang unter Wasser bleiben können.
– Ich habe eben drei Minuten und zwölf Sekunden geschafft.
– Planst du eine Tauchreise?
– Schön wär’s. Nein, ich trainiere für den Luftverkauf durch die Regierung.
– Den Luftverkauf? Welche Luft?
– Die Luft, die du hier zur Zeit noch gratis atmen kannst.
Ich muss töricht und sehr ratlos ausgesehen haben, so mitleidig, wie Dan mich ansah.
– Hast Du denn nicht gehört, dass die Straßen an Investoren verkauft werden?
– Die Autobahnen meinst du, und das war doch eine Ente. Von ‚Straßen’ war nie die Rede.
– Mit den Autobahnen fängt es an, und dann kommen alle Straßen.
– Aber das ist doch längst dementiert worden.
– Genau. Von dem Ministerium, das die Ente selbst in die Welt gesetzt hat. So wie sie es immer machen: Gerücht in Umlauf bringen, Sturm der Entrüstung entfesseln, dementieren, Zeit verstreichen lassen, es dann doch machen und sagen, aber wir hatten es doch angekündigt. So, wie sie es mit der LKW-Maut gemacht haben, erinnerst du dich? Da haben misstrauische Leute wie ich gleich gesagt, wenn das System erst mal steht, werden auch die PKWs drankommen.
– Ja, ich erinnere mich, das wurde damals ausgeschlossen.
– Ausgeschlossen? Jeder der das auch nur leise geraunt hat, wurde zum nörgelnden Apokalyptiker erklärt. Und jetzt? Na? – Eben. Angeblich um die Ausländer für die Straßenbenutzung heranzuziehen. Lächerlich ist das.
– Aber was hat das jetzt mit der Luft zu tun?
– Fragst du das ernsthaft? Die städtischen und staatlichen E-Werke haben Sie verkauft, die Gaswerke, die Wasserwerke, manche Städte die öffentlichen Verkehrsmittel, die Deutsche Bahn –
– Entschuldige, die Bahn nicht!
– Noch nicht ganz. Jetzt die Straßen, eben alles was ihnen eigentlich nicht gehört, sondern, was wir Steuerzahler irgendwann mal bezahlt haben. Bleibt jetzt nur noch die Luft.
Das war nun wieder der Punkt, an dem man sich schnell und freundlich von Dan verabschieden musste.
– Tja, dann werde ich mal die Zeit bis die Luft was kostet, noch ein bisschen frei atmen, mach’s gut, Dan. Noch eine Frage: Wie würde denn der Luftverbrauch gemessen, wenn die Luft Geld kostet?
– Elektronisch natürlich. Diese Armbänder, mit denen Leute jetzt schon freiwillig rumlaufen, als könnten sie es kaum erwarten, würden Pflicht.
– Welche Armbänder?
– Mit denen man den Pulsschlag messen kann, den Blutdruck, wie viel Treppen man steigt, wie oft man ein Bierchen trinkt, und, und, und. Ein Leichtes zu messen, wie viel Luft du verbrauchst, wie oft du ein- und ausatmest, und den Verbrauch direkt an die Luftsteuerbehörde zu senden.
– Deshalb willst du also Apnoe lernen?
– Du atmest ungefähr fünfzehn bis zwanzig Mal pro Minute. Wenn ich mein Ziel erreicht habe, atme ich nur ein Mal alle fünf Minuten, während du schon hundert Mal geatmet hast. Wenn ein Atmer mit sagen wir einem Cent besteuert wird, zahlst du einen Euro pro Minute, ich nur zwölf Cent pro Stunde. Sie werden natürlich nicht gleich mit einem Cent anfangen. Sie werden mit einem winzigen Bruchteil davon beginnen, so dass man es fast nicht merkt und den Preis immer weiter steigern, und wenn es sich dann lohnt, die Luft an einen privaten Investor verkaufen, wie demnächst die Autobahnen. Verstehst du jetzt, warum ich Apnoe trainiere? Und warum du auch mit dem Training beginnen solltest?
– Ich werd drüber nachdenken, Dan.
– Sag mir Bescheid. Ich weiß, wie es geht.
Damit nickte Dan mir zu, atmete tief ein, blähte die Backen und entfernte sich zügig. Ich atmete ein Mützchen kostenlose Luft und wanderte teils amüsiert, teils irgendwie doch nachdenklich auf dem noch gebührenfreien Bürgersteig meiner Haustür entgegen.
UdM